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Samstag, 13. April 2013

Mere Mortals ~ Erastes



Düster, geheimnisvoll, in abgeschiedenen Gegenden in einer anderen Zeit, unerwartete Wendungen und rätselhafte, aber psychologisch ausgefeilte Protagonisten - solche Geschichten liebe ich! Allein schon das Cover von "Mere Mortals" - in gediegenden Brauntönen gehalten - hat mich neugierig gemacht. Eigentlich bin ich kein Fan von englischer Lektüre, weil mir häufig die Wörter fehlen, aber dieses Buch ist so fantastisch und ausgeklügelt geschrieben, dass ich etwas verpasst hätte, hätte ich es nicht gelesen.

Handlung: Norfolk, England, 1846. Der reiche Philip Smallwood lebt abgeschieden auf einer Insel in einem großen, verwinkelten Haus, umgeben von Luxus und Dienern. Der Ich-Erzähler Crispin Thorne, 17 Jahre alt und Waise, wird dorthin eingeladen, um von dem ihm unbekannten Smallwood unter dessen Fittiche genommen zu werden. Überrascht stellt er fest, dass er nicht der Einzige ist: zwei weitere Jungen in seinem Alter, Jude Middleton und Myles Graham, erwarten ihn und erklären ihm, von dem Hausherrn aus demselben Grund "adoptiert" worden zu sein. Smallwood selbst zeigt sich den Jungen selten - häufig ist er nicht zuhause, achtet jedoch darauf, dass den Jungen Manieren beigebracht werden und alles, was sie gesellschaftlich weiter bringt: Reiten, Fechten, Tanzen, Smalltalk auf Partys, die er um ihretwillen veranstaltet. Doch er verbietet ihnen ausdrücklich, zu segeln oder überhaupt zum Fluss zu gehen.

In dem alten Haus, das wundervoll beschrieben wird, stoßen die Jungen auf viele Rätsel, und auch Philip Smallwood gibt ihnen manch harte Nuss zu knacken: jeder erhält den Namen "Dominic" nach ihren Rufnamen, sie finden eine Taschenuhr, die identisch denen ist, die Philip ihnen als Willkommengeschenk gemacht hat, und zudem entdecken sie ein völlig zerspittertes Boot im lange nicht benutzten Bootshaus. Spekulationen werden geschürt. Hatte Smallwood einen Sohn, der im Alter der Jungen ums Leben kam und ertrank, und sucht er einen Ersatz für den Verlust? Fast scheint es so.

Zwischen Crispin und Jude entsteht mehr als nur Freundschaft. Spielerische sexuelle Annäherungen finden statt, die von letzterem bald verneint und brüsk zurückgewiesen werden. Währendessen kümmert sich Smallwood rührend um alle drei Jungs und erteilt ihnen mit ausgesuchten Tutoren Unterricht, jedoch stets einzeln. Außer den gemeinsamen Mahlzeiten sieht er sie nie zusammen. Als Crispin von einer Migräne-Attacke heimgesucht wird, lässt Smallwood besorgt den Doktor kommen. Zwischen ihm und Smallwood herrscht eine Antipathie, die sich die Jungen nicht erklären können, jedoch nicht unbegründet ist.

Waren die drei zu Beginn immer zusammen, kapselt sich Jude allmählich ab, und Crispin beginnt ein Verhältnis mit Myles. Irgendwann erzählt ihnen Jude stolz, er sei derjenige, der Dominics Platz einnehme - es stellt sich heraus, dass Dominic Waise wurde wie die drei und von Philip Smallwood als Freund der verstorbenen Eltern aufgenommen und unterrichtet wurde - in sämtlichen Bereichen.

Die Lage spitzt sich zu, als Philip Smallwood die drei Jungs im "Queen's Favour" überrascht, dem "verbotenen" Zimmer, das einst Dominic gehörte. Der sonst so beherrschte und freundliche Gastgeber reagiert auf den Vertrauensbruch in schockierender und unvorhergesehener Weise.

Meinung: Selten habe ich ein so spannendes Buch gelesen, das mich einfach nicht mehr losgelassen hat. Anfangs war es nicht ganz einfach, den teilweise etwas langatmigen Ausführungen zu folgen, doch entschädigt wurde ich mit einem großartigen Kopfkino, wozu die detailreichen Beschreibungen erheblich beigetragen haben. Merkwürdigerweise wurde ich mit Jude "dear boy" Middleton und Philip Smallwood erst recht spät warm. Aber dann wurde mir die Tragik von Smallwoods Geschichte bewusst; seine Trauer um den tödlich verunfallten Dominic hat etwas unbeschreiblich Rührendes. Und man kann ihn in seiner Wut und Verzweiflung sogar verstehen, als er im Affekt etwas tut, das die Idylle zwischen Mentor und seinen "Zöglingen" auf immer zerstört - selbst wenn offen bleibt, was er mit den beiden "Nicht-Dominics" getan hätte und einiges für Myles' Theorie spricht, sie beseitigen zu wollen, nachdem Philip seinen Kandidaten ausgewählt hat.

Fazit: Kein Happy End, traurigerweise, das ich dem Protagonist Philip Smallwood  und auch den Buben so gegönnt hätte. Aber ein wirklich toller Roman, der so überraschend wie ungewöhnlich ist, dass ich ihm viele Leser wünsche. Obwohl die Thematik wohl nicht jeden anspricht und ein wenig heikel ist für empfindsame Gemüter, versteht es die Autorin, die unter Pseudonym im Genre m / m schreibt, in Andeutungen zu erzählen, ohne dass man sich dabei langweilt, sondern große Sympathie für ihre vielschichtigen Figuren entwickelt und empfindet.

Ein kleines, gruseliges Detail ist die Doppeldeutigkeit des Titels: "Mere" bedeutet "Bloß", und ist zugleich der Name des Flusses, in dem Dominic ertrank und an dem Philip Smallwoods Haus steht.

Bewertung: Volle Punktzahl!



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